Hintergrund: Verein "Hausärzte für Tadschikistan" |
Mein erstmaliger Einsatz dieses Jahr führte mich in den südwestlichen Teil des Landes in die Provinz Khatlon an der Grenze zu Afghanistan. Wir mussten zwar regelmässig Checkpoints passieren, aber Tadschikistan will rein gar nichts mit den Taliban zu tun haben und wir haben uns im Land selber auch immer sicher gefühlt – bis auf eine Ausnahme: im Strassenverkehr! Da hatte ich aufgrund der halsbrecherischen Fahrstile unserer Fahrer wirklich das eine oder andere Mal Todesangst. Der Strassenverkehr vor allem auf der Seidenstrasse war die grösste Gefahr in diesem Land. Den Islam als Religion haben wir als entspannt, geprägt von grosser Gastfreundschaft, und nie als aufdringlich oder penetrant erlebt. Aber nun zurück zum Beginn unseres Einsatzes…
Nachdem die „Hausärzte für Tadschikistan“ nicht mehr von offizieller Schweizer Seite durch die DEZA unterstützt werden, wurde die Organisation des Einsatzes aufwändiger. Zwar hatten wir vom Nationalen Gesundheitsministerium von Tadschikistan vor dem Einsatz die Bewilligungen für unsere Tätigkeiten erhalten, aber damit war dann auch schon Schluss mit Vorausplanung. Zum Glück begleiteten uns vier mit HfT vertraute Dolmetscherinnen, und eine von ihnen übernahm dann sehr kompetent die weiteren administrativen Schritte. Darüber waren wir sehr dankbar! Obwohl einige Behörden nicht wirklich begeistert waren von unserem Auftauchen und obwohl die Hausärztinnen und Hausärzte, die wir auf dem Land besuchen wollten, nicht vorinformiert waren, hat mit viel Improvisation doch alles irgendwie geklappt und wir konnten unsere Besuche starten!
Unterwegs auf der Seidenstrasse: einmal gemächlich...und einmal halsbrecherisch schnell. (Fotos: zvg)
In der Region Khatlon waren wir viermal je drei Tage lang in Hausarztpraxen tätig. Dass jede und jeder von uns Schweizer Ärzten und Ärztinnen jeweils eine eigene Dolmetscherin zur Seite hatte, war eine grossartige Hilfe. Die tadschikische Sprache kommt aus dem Farsi, also dem Persischen, sie wird aber aufgrund der Vergangenheit in der Sowjetunion in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Ohne Einsatz der Übersetzerinnen wäre unsere Arbeit so nicht möglich gewesen.
In jedem neuen Einsatzort mussten wir uns dann zuerst dem lokalen Gesundheitsministerium vorstellen. Die Administration dauerte jeweils einen halben Tag. Und da die lokalen Hausärzte nicht vorinformiert gewesen waren, ging danach die fieberhafte Suche nach geeigneten Praxen los, die wir entweder noch am selben oder dann am nächsten Tag besuchen durften. Jedes Arzt/Dolmetscher-Paar kriegte dann eine Hausarztpraxis in der Peripherie des entsprechenden Distriktes zugeteilt, schwärmte aus, und abends trafen wir uns wieder alle im Hauptort des Distrikts. Die kleinen Dörfer lagen bis ungefähr eine halbe Stunde entfernt vom Zentrum.
Unseren abendlichen Austausch schätzte ich sehr. Es war uns wichtig, unsere Eindrücke und medizinischen Fälle besprechen zu können. Entsprechend den Bedürfnissen unserer lokalen Kolleginnen und Kollegen legten wir unsere Schwerpunkte auf Diabetes, Übergewicht und Hypertonie. Überraschend für uns war, dass wir zu ungefähr 80% weibliche Patienten antrafen. Die Mehrzahl der Männer aus Tadschikistan arbeiten in Russland als Gastarbeiter und verdienen dort das Geld, das sie zu den Familien nach Hause schicken. In Tadschikistan gibt es neben Landwirtschaft wenig Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistung. Die Verdienste (auch für Ärzte!) sind sehr gering. So bekamen wir in den Praxen fast nur weibliche Patientinnen zu Gesicht. Meistens war es dann nicht nur der Besuch einer Person, sondern die Frauen – oft Schwiegermütter - brachten ihre ganze Grossfamilie mit sich, die dann auch alle im Behandlungszimmer Platz nehmen und bei der Untersuchung dabei sein wollten. Mit etwas Überredungskunst konnten wir dann die Begleitung auf eine bis zwei Personen reduzieren. Das Patientengeheimnis bedeutet den Menschen dort offenbar nicht ganz so viel wie uns hierzulande…
Blick ins (weibliche) Wartezimmer, links der spezialisierte OP für Zirkumzisionen der jungen Söhne.
Häufige Behandlungsgründe waren somit frauenspezifischen Themen wie Schwangerschaft, vor- oder nachgeburtliche Probleme und Eisenmangel und pädiatrische Untersuchungen. Auch zur Ernährung gab es viel zu diskutieren. In Tadschikistan ernähren sich die Menschen grundsätzlich ausreichend gesund, es gibt durch den Ackerbau genügend Getreide, Gemüse, Früchte und Hülsenfrüchte. Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamintabletten oder Spurenelemente sind sehr hoch im Kurs. Sie gelten quasi als Allerheilmittel für oder gegen fast alles, und die Menschen würden am liebsten tonnenweise davon schlucken. Wir haben wertschätzend auf ihre gesunde Ernährung aus dem eigenen Garten hingewiesen und die Hausärzte motiviert, mit den Substitutionen etwas evidenzbasierter umzugehen. Wir durften an einem Qualitätszirkel von rund 25 Kollegen teilnehmen, bei dem das metabolische Syndrom und besonders dessen Behandlung in der Schwangerschaft im Vordergrund standen.
Ein weiteres grosses Thema neben dem Stoffwechsel war der Bewegungsapparat. Auf diesem Gebiet konnten wir wohl am meisten bewirken. Ich war dankbar, auf meine Ausbildung in manueller Medizin zurückgreifen zu können. Schon vor der Abreise war uns bewusst, dass die tadschikischen Hausärzte zu Themen des Bewegungsapparats nicht besonders gut ausgebildet werden. Unsere Teamleiterin hatte laminierte, tadschikisch-kyrillisch geschriebene Infoblätter zu Heim-Übungen für die Dehnung und Kräftigung des Rückens mitgebracht. Aus meiner Sicht war hier der Bedarf an Wissensvermittlung zur Untersuchungstechnik, Diagnostik und Therapie besonders gross. Die gemeinsam mit den lokalen Ärzten durchgeführten Untersuchungen waren denn auch ein Highlight für mich. Allerdings gab es zuerst eine grosse Hürde zu überwinden: Wie sollte ich bloss die verhüllten tadschikischen Frauen an Rücken und Gelenken untersuchen? Ich hätte nicht erwartet, dass mir mein Arzt-Kollege auf diese Überlegung ganz unkompliziert mitteilte, ich solle die Frauen doch einfach fragen! Und siehe da: In Anwesenheit anderer Frauen und mit der gebotenen Achtsamkeit meinerseits war die Untersuchung des Rückens und der Gelenke problemlos möglich. Sie waren sogar sehr glücklich und dankbar, dass sich ein Arzt einmal für ihre «Bresten» interessierte und sie «hands on» untersuchte! Die lokalen Ärzte waren darüber nicht schlecht erstaunt, und ziemlich schnell wurden Handys gezückt und Videos der Untersuchungstechniken gemacht. Wenn der Doktor kein Smartphone hatte, wurde halt einfach ein etwas wohlhabenderer Patient mit Handy angefragt.
Nach der Untersuchung stellten sich natürlich viele Fragen zur Therapie. In Tadschikistan ist Paracetamol das Allerweltsmittel für alles. Egal, was wie weh tut, es werden grosszügig Analgetika verschrieben. Bei unseren Untersuchungen des Bewegungsapparates haben wir zahlreiche Wachstumsstörungen, leider viele unbehandelte Unfallfolgen mit Fehlstellungen, osteoporotische Frakturen, nicht selten entzündliche rheumatische Erkrankungen und natürlich die ganze Palette der degenerativen Krankheiten gefunden. Diagnostisch vor Ort war nur die klinische Untersuchung möglich.
Die gemeinsam durchgeführten Sprechstunden waren auch in anderer Hinsicht eine Art „Augenöffner“, sozusagen eine vertrauensbildende Massnahme: Am ersten Tag waren viele Hausärzte, die wir besucht hatten, eher verunsichert oder gar misstrauisch uns gegenüber. Sie befürchteten eine staatliche Kontrolle mit Konsequenzen für ihre Berufsausübung. Nach Klärung, dass wir sie als Mentoren besuchten und mit wachsendem Vertrauen entspannten sich diese Situationen jedoch rasch.
Bei den Hausärzten hielten sich die männlichen und weiblichen Kolleginnen und Kollegen etwa die Waage. Wir sahen viele junge Ärztinnen, aber auch viele ältere Kollegen, die 70 Jahre und älter waren und immer noch praktizierten. Auch in Tadschikistan kennen sie das Problem, dass Ärzte abwandern. Die Arbeit ist alles andere als attraktiv: Ein Hausarzt verdient pro Monat ungefähr 150 Euro. Immerhin gibt es eine ärztliche Versorgung auch in ländlichen Gebieten, jedoch in einer viel weniger grossen Dichte als bei uns in Mitteleuropa. Trotz allem habe ich die von uns besuchten Ärztinnen und Ärzte als motiviert und sehr interessiert erlebt, Wissen aufzunehmen und weiterzugeben. Oft gingen sie nach der Sprechstunde noch einer zusätzlichen Arbeit nach, beispielsweise im familieneigenen kleinen Bauernbetrieb. Ich bewunderte ihren motivierten Einsatz, obwohl die Arbeitsumstände alles andere als optimal sind.
Ein sehr interessanter, aber auch eindrucksvoller Teil unseres Einsatzes waren die Hausbesuche. Wir trafen zahlreiche bettlägerige Patienten an, die an chronischen Krankheiten litten oder schon seit der Geburt schwere Behinderungen hatten. Diese Menschen wurden zuhause mithilfe der ganzen Familie gepflegt. Ich erinnere mich an eine 45-jährige Frau, die nach einer Enzephalitis seit sieben Monaten in einem Wachkoma lag. Sie war sauber gepflegt, hatte eine Magensonde für die Ernährung und einen Urinkatheter, was mich doch etwas überraschte. Auch in Tadschikistan gibt es eine Art Spitex, die Familienmitglieder in der Pflege instruiert. Wir wurden dann gefragt, was wir in diesem Fall noch zur Behandlung vorschlagen würden. Uns fiel auf, dass die Patientin unter muskulären Spasmen und beginnenden Kontrakturen litt. Zusätzlich zur muskel-relaxierenden Medikation schlugen wir vor, dass eine Physiotherapeutin – das gibt es! – der nächst gelegenen Distrikt-Hauptstadt die pflegenden Familienangehörigen instruiert und so einem Fortschreiten der Kontrakturen vorbeugen kann. Obwohl in diesem Fall keine Aussicht auf Besserung bestand, konnten wir so doch mittels Beratung und einer pragmatischen Vorgehensweise hoffentlich etwas Positives bewirken.
Eindrücklich fand ich an diesem Einsatz auch, mit wie wenig Hilfsmitteln die Hausärztinnen und Hausärzte in Tadschikistan auskommen müssen. Ein Reflexhammer und ein Otoskop sind lange nicht in allen Praxen verfügbar, Labors ausgestattet mit Trockenchemie und serologischen Tests sowie Radiologie gibt es nur in den nächst grösseren Städten. Die Reise dorthin sowie entsprechende Untersuchungen müssen die Patienten selber bezahlen. Wohlhabendere Diabetes-Patienten kaufen sich ein Blutzucker-Messgerät in Russland, messen selber und dokumentieren mehr oder weniger zuverlässig die Messungen für den Hausarzt. Das ist Luxus, ansonsten müssen sich die Hausärzte auf ihre klinische Beurteilung verlassen. Leider funktioniert die Versorgung mit labordiagnostischen Geräten im Land sehr schlecht bis gar nicht. Geräte und Verbrauchsmaterial verschwinden im Laufe einer Versorgungskette und kommen nie in der Peripherie an. So kocht eine (oftmals gut ausgebildete) Laborantin in einer Hausarztpraxis in Tadschikistan den Urin über dem Bunsenbrenner auf und kontrolliert, ob Zucker ausfällt. Mit einem immerhin meistens vorhandenen Mikroskop kann sie auch das Urin-Sediment untersuchen, aber das war‘s dann auch schon an Hilfsmitteln.
Links: Blutdruck-Messgerät und Stethoskop sind die einzigen Hilfsmittel des Hausarztes.
Rechts: Ein Labor mit ausgebildeter Laborantin. Sie kann Urinsediment und Zucker mit der Aufkoch-Methode bestimmen, Blutuntersuchungen sind wegen fehlendem Verbrauchsmaterial nicht möglich.
Was ich selber medizinisch gelernt habe? Sehr viel! Zum Beispiel habe ich einiges mehr über Parasitosen erfahren. So kamen beispielsweise zahlreiche Kinder mit weissen Flecken im Gesicht in die Praxis. Ich konnte mir fast nicht vorstellen, dass sie alle an einer Vitiligo (Weissfleckenkrankheit) litten….die lokalen Ärzte haben mich dann fast ein wenig ausgelacht, als ich ihnen meine Überlegungen mitteilte und meinten: „Die Kinder haben doch Hautwürmer! Schau mal den restlichen Körper an, da gibt es überall Flecken. Die werden zuerst rot, dann braun und dann weiss. Diese Kinder musst du entwurmen!“ Was mich auch beeindruckte: Die Menschen in Tadschikistan nehmen die Bekämpfung der Tuberkulose sehr ernst. Erkrankte werden bei der Betreuung staatlich unterstützt, ihr Sputum wird täglich von offizieller Stelle gratis abgeholt und sorgfältig Kulturen angelegt.
An den Wochenenden hatten wir frei und machten Ausflüge ins nahe gelegene Gebirge oder in einen Nationalpark. Wir durften unglaublich herzliche Gastfreundschaft bei lokalen Anwohnern erfahren, mit ihnen essen und in ihren Häusern übernachten. Aber wir wurden nicht nur auf unseren Ausflügen grossartig bewirtet, sondern auch an den Arbeitstagen. Für jedes Mittagessen wurden wir eingeladen, entweder vom Arzt oder der Ärztin oder von Patienten. Die Tadschiken nehmen es mit ihren Mittagspausen sehr genau. In den von aussen unscheinbaren, aber im Innern umso schöner gestalteten Häusern durften wir am Mittagstisch Platz nehmen. Das heisst, der ganze Boden ist ausgelegt mit Kissen, in der Mitte stehen alle Esswaren, meistens eine Suppe mit etwas Knochen und Fleisch, ein lokales Fladenbrot in der Grösse von Wagenrädern, das an feuchten Tongefässen über dem Feuer gebacken wird, Gemüse, Linsen, Kichererbsen, dann gab es eine reich gefüllte Fruchtschale….und dann erlebte ich einen regelrechten Schock: In einer ebenso grossen Schale wie jene mit den Früchten lagen Süssigkeiten wie Mars und Milky Way – wir reden hier von hunderten solcher Schokoriegeln – die munter während des Essens herumgereicht wurde. Dementsprechend sehen auch die Gebisse der Menschen dort, vor allem der Kinder, aus… Das Sitzen am Boden im Schneidersitz war für uns gewöhnungsbedürftig, aber wir kriegten Übung mit der Zeit!
Wir waren auf unserer ganzen Reise vom ersten Moment an eingebunden in das Leben der Bevölkerung. Die Arbeit unserer Übersetzerinnen war von unschätzbarem Wert. Ich habe mich nie als Tourist in einem fremden Land gefühlt. Das Wunderbarste dieses Einsatzes war, dass sich mein Horizont in der kurzen Einsatzzeit enorm erweitert hat und ich eine grenzenlos herzliche Gastfreundschaft erleben durfte.
Für zukünftige Einsätze hoffen wir auf eine intensivere Koordination mit den lokalen Gesundheits-behörden, damit die lokalen Ärztinnen und Ärzte unsere Besuche planen und vorbereiten können. Mit den beiden Schweizer Organisationen Swiss Surgical Teams und SwissTajik Pediatric Project (STAPP) optimieren wir die Synergien für die Missionen.
Aufgezeichnet von Manuela Frey
Mehr zum Verein "Hausärzte für Tadschikistan" unter www.hausaerzte-fuer-tadschikistan.ch
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